Das Wort des Kritikers

Einst gab es einen Kritiker, der fürchtete ein Wort. Und da er das Sprichwort kannte, dass man seinen Freunden (die er als Kritiker naturgemäß nicht hatte) nahe, seinen Feinden jedoch noch näher sein solle, begab er sich auf die Suche danach.
Er stöberte auf Dachböden und fand Wortspiele in verklebten Kartons. Er kletterte in Keller und fand Wortschätze hinter Heizungsrohren. Er reiste an den Wörthersee und sprach mit ansässigen Wortgruppen, doch nirgends fand er das Wort, das er so sehr fürchtete.
Doch das Wort fand ihn.
Es saß im Schlüsselloch, als der Kritiker alle Fachworte aus dem Fenster warf; es hockte in der Regenrinne, als er alle Wörterbücher im Hof verbrannte; und es kauerte unter seinem Bett, als er bitterlich sein Schicksal kritisierte.
Da kam es hervor und hangelte sich am Laken herauf. Es tapste über seine Ohren und büßte ein paar Buchstaben ein, als es in seinen Haaren strauchelte. Und gerade als der Kritiker das furchtbare Wort zersprechen wollte, stach es ihm ins Auge.
›Natürlich‹, dachte der Kritiker, der nun auf dem rechten Auge blind war, ›was ich fürchtete, war ein Stichwort.‹

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