Im Raum

Sie lag mit dem Rücken zur Tür, abgewandt, soweit sie ihren Körper zu drehen vermochte. Mit gebundenen Händen und Füßen.

Er betrat den sterilen Raum und verharrte, schaute sie an, und überlegte, ob er später wiederkommen solle. Er verwarf den Gedanken; sie war nicht hier, um Privatsphäre zu haben.

Jemand sprach sie an, mit ruhiger Stimme, die Worte freundlich gewählt. Sie drehte Kopf und Schulter und betrachtete ihn. Mittelgroß, mittelblond, mittelkräftig. Ihr Blick betastete ihn.

Er hatte das Bedürfnis, den oberen Hemdknopf zu schließen. Zugleich wurde ihre Haltung weniger ablehnend, und er trat heran, um mit der Untersuchung zu beginnen.

Er kündigte jede Berührung an und wartete zunächst auf eine Reaktion. Sie reagierte nicht, weder zustimmend noch ablehnend. Behutsam betastete er ihre Knöchel und Handgelenke, dann besah er ihre Schlüsselbeine und den Nacken.

Ihre Augen waren so blau wie sein Hemd. Der Blick folgte unablässig jeder seiner Bewegungen. Er konzentrierte sich auf ihre Haut. Unter den Fixierungen war sie nur leicht errötet, was er eher der empfindlichen, blassen Derma als einer Abwehr zuschrieb. Dann betrachtete er die Lymphknoten, zuerst am Hals, unter der Ohrmuschel. Die anderen waren unter der reinweißen Kleidung verborgen – einem festen Trikot und einer gerade geschnittenen Hose aus Baumwollstoff.

Es war ihm sichtlich unangenehm, sie ohne ihre Einwilligung zu berühren. Sie wartete ab. Während er mit leichtem Druck bestimmte Stellen ihres Körpers untersuchte, betrachtete sie sein Profil. Reine Haut, gerader Haaransatz, perfektes Ohr. Sie lächelte.

Er betastete ihre Kniebeuge und konnte auch dort keine Auffälligkeit feststellen. Als er sich aufrichtete, ließ er einen abschließenden prüfenden Blick über sie streichen – und stutzte. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert, so sehr, dass er meinte, dort läge plötzlich eine andere Person. Eine Frau mit Sinnlichkeit im Blick und einer Einladung auf den Lippen. Hemdblaue Augen und apfelroter Mund. Die Haut hob sich deutlich rosig von der weißen Baumwolle ab. Seine Aufgabe war getan, aber er konnte sich nicht abwenden.

Als er sich auf die Bettkante setzte, fiel ihr Gehör aus. Ein Flirren durchtanzte ihren Kopf. Ihr Körper pulsierte, griff mit der Wärme nach seinem Willen. Und zwang ihn herab.

Er schloss die Augen und versank in ihrem Geruch. Nach Kissen, Sommer und Kreide. Er legte seinen Mund auf ihre Lippen und fiel vollends in ihre Aura.

 

Als sie sich aufrichtete, schloss sie als erstes den Hemdknopf. Es war so blau wie ihre Augen, es stand ihr gut. Dann betrachtete sie den Mann auf der Liege. Sein Haar war verwirrt, ebenso sein Blick. Das weiße Beinkleid verdeckte die Fixierung kaum. Ein Lächeln verharrte noch auf seinen köstlichen Lippen, als sie den Raum verließ, wie er gekommen war.

Leave a Reply

Your email address will not be published.

You may use these HTML tags and attributes: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <strike> <strong>