Mein Nachbar stirbt

[Diese Geschichte gibt es auch zum Zuhören. Aber nur im Dunkeln!]

 

Montag

Mein Nachbar stirbt. Täglich. Jeden Abend klingt es, als kotze er sich die Gedärme aus dem Leib und von dort direkt an die Wand, die meine Wohnung von der seinigen trennt. Tagsüber ist er totenstill, und ich war mehrmals in Versuchung, die Polizei zu rufen, weil mich der Nachbar nicht mehr lärmbelästigt.

Mein Nachbar ist männlich, das Alter lässt sich anhand der würgenden Geräusche unmöglich schätzen. Als ich vor einem halben Jahr hier einzog, schätzte ich ihn auf etwa Achtzig, denn man müsste schon im Kindesalter das Kraut aus dem zweiten Weltkrieg geraucht haben, um so einen prächtigen Husten zu züchten. Heute bin ich dessen nicht mehr so sicher, denn um so eine Tortur ein halbes Jahr lang zu überstehen, braucht es einen jungen, regenerierfähigen Körper. Da ich das Rätsel logisch nicht löse, werde ich Feldforschung betreiben müssen. Oder eher: Wandforschung.

Dienstag

Mein Nachbar stirbt immer an derselben Stelle seiner Wohnung. Ich habe den Platz lokalisiert, an dem er seine Gedärme gegen die Wand würgt und dort Stellung bezogen. Gestern hielt ich bis zwei Uhr morgens durch. Das Röcheln begann gegen 21 Uhr und klang bereits eine Stunde später nicht mehr menschlich. Er röchelte bis etwa um elf. Ich wollte wissen, ob er die Lunge danach wieder auffuttert – doch ich höre keine Schmatzgeräusche, die darauf hinweisen, bis zwei Uhr morgens.

Der Trick mit dem Glas und der Wand funktioniert übrigens nicht außerhalb von Kinderfilmen. Entweder sind die Berliner Wände oder der Ikea-Glas-Boden zu dick oder meine Ohren nicht lauschig genug. Ich lasse das Glas hier stehen, falls eine Spinne des Weges kommt. Jedenfalls werden ich das behaupten, wenn jemand fragt.

Mittwoch

Das Husten ist grotesk, das Würgen dämonisch. Man hört, dass etwas aus ihm herausplatscht. Etwas großes, schleimiges. Bestimmt ist er ein Zombie. Mit einer Hirnunverträglichkeit. Oder Bulimie. Er futtert am Nachmittag und kotzt abends alles wieder aus. Jemand sollte ihn warnen, die Junkies zu spachteln, die regelmäßig in den Hausaufgängen Zuflucht vor schlechtem Wetter und aggressiven Obdachlosen suchen. Die sind schon für einen Nichtuntoten Übelkeit erregend.

Donnerstag

Ich mache mir Sorgen, dass die Raufaserabdrücke in meiner Ohrmuschel dauerhaft bleiben. Neben dem Glas liegt jetzt ein Gerät, das aussieht, als hätte ich es aus Papas alten Elektronikbeständen geklaut. (Habe ich auch.) Es trägt den Wahnsinnsnamen Whisper 2000 und ist eine Art vorsintflutliches Hörgerät. Es funktioniert zum Lauschen genauso gut wie das dickbodige Glas. Aber weniger gut zum Spinnenfangen. Habe den Begriff Ghul gegoogelt. Das ist es. Er frisst Leichen! Das ist so logisch, denn der Schwund an Miete zahlenden Nachbarn würde ja irgendwann aufgefallen. Doch wer vermisst schon die überfahrenen Obdachlosen und herzinfarkten Nachbarn? Na also. Total logisch.

Freitag

Da ich mit meinen Yps-Tricks und Technikkenntnissen also nicht weiterkomme, mein Nachbar aber rätselhafterweise weiterhin abendlich seine Organe herauswürgt, und sich tagsüber neue wachsen lässt, werde ich es wagen und bei ihm klopfen. Ganz altmodisch und manuell. Jawohl. Gleich heute Abend. Oder morgen.

Samstag

Ich war da! Also – fast. Der Nachbar wohnt nicht mal eben übern Flur, sondern im benachbarten Aufgang. Also trabte ich treppab, raus aus dem Haus, dachte mir ein hübsches Sprüchlein aus („Sagen Sie mal – könnten Sie vielleicht etwas weniger Organe gegen die Wand würgen? Das wäre echt super.“) und stand dann etwas ratlos vor dem Nebeneingang. Seinen Namen hatte der Sterbende nie ausgespuckt und es gab verflixt viele Schildchen mit jeweils einem, sehr einsam und krank wirkendem Namen darauf. Also suchte ich mein eigenes Fenster in der Häuserfront, fand seines und schätzte die Zuordnung auf den Klingeln ab. Versuche eins bis vier schlugen fehl. Ganze-Hand-auf-alle-Klingeln-pressen funktioniert aber immer. Selbst um neun Uhr abends. Und da wundern sich die Leute über Einbrecher und Junkies im Hausflur. Also echt. Im vierten Stock saß dann auch einer und zündelte an einem Löffel herum. Ich lächelte ihm zu und überließ ihm seinem Tun, bevor mir aufging, dass ich mich bereits verzählt hatte, da der Sterbende im dritten Stock wohnt. Ich drehte also auf dem Treppenabsatz um lächelte mich noch mal an dem Junkie vorbei, der sehr breit zurückgrinste, bevor ich im ersten Stock vor drei Türen stand. Drei. Dank der mehrmaligen Richtungswechsel im Treppenhaus hatte ich keine Idee, hinter welcher sich mein Zonk verbarg. Und ich hatte kein Lauschglas dabei. Wenn man schon mal eines braucht. Ich näherte meine Fingerknöchel auf gut Glück der linken Tür (wobei ich grundsätzlich die Worte links und rechts synonym verwende) und murmelte: „Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr, wenn das Licht angeht.“ Da ging das Licht aus.

Ich quiekte, oben schepperte Aluminium auf die Treppe, hinter der Tür stöhnte es, ich quiekte lauter und hetzte in Rekordzeit die Treppen hinab und zurück und die Sicherheit meiner Wohnung. Nun sitze ich wieder hier. Und höre ihn sterben.

Sonntag

Ich habe nicht geschlafen. Ich sitze inmitten meines Wohnzimmers und starre auf die Wand gegenüber, hinter der sich der Ghulzombie bewegt. Ich saß noch die halbe Nacht an der Stelle der Wand, an der ich ihn am besten hörte. Und ich hörte ihn. Er keuchte, er hustete, er würgte und dann – wisperte er. Worte, Flüche, ein Brei aus Lauten, die alle mich meinten. Ich wusste, er hatte mich gesehen, als ich vor seiner Tür stand. Er sah mich und nun weiß er, dass ich hier bin. Er hat meine Witterung aufgenommen und wartet auf den Moment, an dem ich unaufmerksam werde. Sobald ich ihn aus den Ohren verliere, wird er zuschlagen. Er wird mich fangen, mich fressen und töten oder mich töten und fressen, je nachdem ob der Ghul oder der Zombie stärker in ihm ist. Und dann wird er mich abends wieder auswürgen und gegen eine Wand spucken, hinter der niemand mehr sitzt und lauscht und den Spinnen beim Sterben im Glas zusieht.

Irgendwann

Eben ist das Würgen verstummt. Es ist erst Viertel nach neun, viel zu früh für die Totenstille. Dann höre ich ein Räuspern – doch jenseits der Wand bleibt es still. Es kommt durch die angeklappten Fenster, die zum Bürgersteig hinausgehen. Diesen Weg rannte ich vor Stunden (vor Tagen gar?) entlang. Nun nähert sich von dort jemand meiner Haustür. Hustet. Und durch das Treppenhaus hallt der Klang vieler Klingeln, als presse jemand seine Hand auf alle Knöpfe zugleich.

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