Mr. Buttons

Angelique war fünf Jahre alt, als ich ihre Bekanntschaft machte. Sie war wohl das, was man ein aufgewecktes Kind nennt, voller unerfüllter Wünsche und Wollen und wilder Träume. Ihre Eltern führten ein eher beschauliches Leben, voller erfüllter Wünsche und Möchtegerns und gediegener Vorstellungen. Passend dazu trugen Angeliques Eltern die überaus gediegenen Namen Stefanie und Sebastian, was vielleicht den eher ungewöhnlichen Namen ihres einzigen Kindes entschuldigt, auch wenn dies zur Folge hatte, dass das Kind konsequent Lina gerufen wurde. Ich mochte Stefanie und Sebastian, und sie mochten mich, wohl weil ich sie niemals mit Steffi und Basti ansprach. Und als wir einander ausreichend mochten, stellten sie mir Lina vor.

Diese Vorstellung darf man sich so vorstellen: Angelique stellte sich vor mich und stellte sich vor. Sie sei Angelique, und habe beschlossen, mich zu mögen. Für diese Entscheidung brauchte sie keinen ganzen Handschlag, und in den folgenden zwei Jahren bemerkte ich, dass sie für keine einzige ihrer Entscheidungen mehr Zeit benötigte. Wir waren also sofort Freunde, was Linas Eltern ganz besonders erfreute, konnten sie mich doch auf diese Art schnellstmöglich zu Linas Patin erklären – was ein schmeichelnder Begriff für ein kostenloses Kindermädchen ist.
Stefanie und Sebastian händigten mir flugs einen Schlüssel für ihre geräumige Wohnung aus. und so saß ich des Öfteren inmitten dieser Geräumigkeit und trank mit Angelique und ihrer Enklave aus Plüschtieren Kakao. Stefanie und Sebastian nutzten die Nachmittage anderweitig. Sie hatten ein bis dato schwer vernachlässigtes Hobby – auf welches ich an dieser Stelle unmöglich näher eingehen kann. Doch meine Anwesenheit in ihrem geräumigen Leben erlaubte ihnen, sich wieder damit zu befassen. Und mir erlaubte es, alle meine eigenen Freizeitaktivitäten zu verwerfen, um mich in einem anderen Leben einzuquartieren. Erst nur an den Montagnachmittagen, wenn ich mit Lina und den Kuschis Kakao trank, dann an den Samtsagnachmittagen, wenn ich mit Lina in den Zoo, ins Kino oder auf den Rummel ging. Später auch an den Mittwochabenden, wenn ich mit Lina Milchreis kochte oder sie beim Mensch-ärger-dich-nicht ärgerte. Und dann auch an den Sonntagmorgen, wenn ich Samstagabend Lina Geschichten vorlas und wie selbstverständlich die Nacht über neben ihr schlief. Stefanie und Sebastian mochten mich, weil ich Lina so mochte. Und Lina wiederrum mochte Mr. Buttons.

Mr. Buttons war ein grässlicher Vertreter seine Zunft: spuckebraun und schlecht vernäht lächelte er eher heimtückisch denn niedlich in die Umgebung von Linas Bett. Das Grinsen bestand aus einer dünnen Linie aufgenähten Garns, darüber starrten zwei unterschiedlich farbige Vierlochknopfaugen in alle und keine Richtung zugleich. Ich vermutete, dass er ein Geschenk von Sebastian und Stefanie gewesen war, auch wenn ich kaum glauben mochte, dass dies ein Präsent der Zuneigung gewesen war. Doch wann immer ich versuchte, das dreckige Ding aus den Kissen zu fischen und unauffällig unter das Bett zu verfrachten, schreckte Lina aus dem Halbschlaf auf und verlangte nach diesem Bastard aus Teddy und … Viech. Es half nichts, sie machte eine sehr wichtige Erfahrung schon sehr früh in ihrem Leben: Die tollsten Mädchen verlieben sich in die widerwärtigsten Typen.
Ich mochte Mr. Buttons nicht, und Mr. Buttons mochte mich nicht, und so quälte er mich, wo es ihm nur möglich war. Hantierte ich in der Küche herum, saß er plötzlich in meinem Augenwinkelblickfeld und ich verschüttete den Zimt. Erwachte ich nachts in Linas Bett, lag er auf meinem Gesicht und stopfte Fließfusseln in meinen Mund. Er steckte in meinem Mantel, in meiner Handtasche und mehr als einmal mitten im quellenden Milchreis. Nachts hockte er zwischen Lina und mir auf ihrem Kopfkissen und schaute auf das schlafende Mädchen herab, während ich meinerseits ihn anschaute und wünschte, er möge zu Milbenstaub zerfallen. Ich durfte ihn weder waschen noch des Raumes verweisen oder verbrennen. Und ich ahnte, dass ich Lina niemals vor die Wahl stellen durfte: Er oder ich. Die Entscheidung zwischen bester Freundin und abscheulichem Freund wollte ich Linas Jugend nicht vorwegnehmen. Zudem hätte ich sicher verloren.

Angelique verlor derweil etwas anderes. Am Morgen ihres sechsten Geburtstages saß ich mit Sebastian und Stefanie an der kleinen Kaffeetafel zwischen den Kuscheltieren, den ekelhaften Mr. Buttons am Rande des Blickfeldes. Lina kam aus ihrem Zimmer, im niedlichsten Kleidchen aus fliederfarbener Baumwolle, und grinste verkniffen. Dann streckte sie mir ihre kleine Faust entgegen und verlangte stumm nach meiner Handfläche. Ich fürchtete, sie gäbe mir eine Kellerassel und schaute hinweissuchend zu Sebastian und Stefanie, die beruhigend – und so verschlagen es gediegenen Leuten möglich ist – lächelten. Ich streckte also meine Hand unter Linas Fäustchen und erwartete etwas Lebendiges mit zu vielen Beinen. Was in meine Hand fiel, war klein und weiß und feucht. Doch es krabbelte nicht davon, weswegen ich aufatmete. Lina begann zu lachen und nun sah ich, was sie soeben verloren hatte: Das Puzzlestück in meiner Hand gehörte in ihre untere Kauleiste. Dort prangte nun eine wunderbar fleischige Lücke im kleinen Gebiss. Ich durfte den Zahn leider nicht behalten. Aber jemand anderes durfte es.

Meine Arbeit verlangte keine zeitlich festgelegte Präsenz von mir, weswegen ich zuweilen einige Schriftstücke mit in die geräumige Wohnung von Sebastian und Stefanie nahm, um sie dort durchzusehen. Dafür bot sich die Zeit während des Essens besonders an, da Angelique stets hochkonzentriert ihre Mahlzeit zerteilte, ordnete, neu zusammensetzte und erst dann aß. Das Abendessen dauerte infolgedessen einige Zeit, während derer ich arbeitete und Lina ihr Essen optisch perfektionierte.

Am folgenden Samstag kredenzte ich Angelique einen Apfelsalat mit Rosinen. Nach einigen Umbauten auf ihrem Teller, sah ich kurz auf und bemerkte, wie sie einige Schnitze in die Taschen ihres Kleides steckte. Als ich danach fragte, stopfte sie sich einige Gabeln voller Obst in den Mund, sodass ich ihre Antwort unmöglich verstehen konnte. Ich lachte, bis ich den blutigen Speichel sah, der mit dem Apfelsaft über ihre Lippe lief. Die kleine Wunde, die der Zahn hinterlassen hatte, war aufgesprungen. Ich entließ Lina in die Badewanne und nahm mir vor, die Apfelschnitze später wieder aus ihrem Kleid zu nehmen, bevor sie dort zu gären begannen. Nachdem ich das frisch gewaschene Kind in die Bettdecke gewickelt und es mir mit einem Märchenbuch neben ihr im Bett gemütlich gemacht hatte, begann sie eifrig, an ihrem zweiten unteren Schneidezahn herumzuwackeln. Sie tat das mit einer solchen Konzentration, dass sie vergaß, an den Stellen zu kichern, an denen ich meine Stimme ganz besonders verstellte, um den griesgrämigen Großvater zu mimen. Sie zuckte auch nicht zusammen, als ich sie beim Angriff der wild gewordenen Ziegen in den Arm knuffte, um sie zu erschrecken. Sie wackelte weiterhin an dem Zahn herum, als sei es das Schwert Excalibur, was es galt, aus dem Stein zu befreien. Schließlich schlummerte sie ein, den Zeige- und Mittelfinger noch im Mund, als ich eben die Prinzessin aus ihrem Gefängnis befreite.
Ich legte das Buch beiseite und erinnerte mich daran, noch etwas anderes befreien zu wollen. Also setzte ich die nackten Füße auf den Boden und schlich im Schein des kleinen Leselichtes zu Linas schluderig abgelegten Sachen neben ihrer Seite des Bettes. Ich hob das Kleid auf und fingerte in den Taschen herum, bis ich etwas Kleines, Hartes, Feuchtes ertastete. Ich dachte an den Zahn, hielt mir das Herausgefischte vors Auge – und erkannte eine Rosine. Von den Apfelstücken fand ich keine Spur, und so nahm ich an, dass Lina sie gegessen habe. Als ich das Kleid zurück auf den Boden legte, fiel mir etwas Ungewohntes im Augenwinkel auf. Unter dem Bett schaute ein braunes Fließbeinchen hervor, was ich zu gut kannte, hatte ich es doch unzählige Male mit spitzen Fingern angefasst, um das dazugehörige krude Kuscheltier aus meinen Sachen zu entfernen.
Ich besah das schlafende Mädchen und lächelte. Scheinbar hatte sie sich endlich von Mr. Buttons getrennt und ihn daher unter dem Bett einquartiert. Meines Erachtens hätte er in den Altkleidersack gehört, aber vorerst würde mir genügen, das stinkige Ding aus dem Schlafraum zu wissen. Ich zog also an Mr. Buttons Bein und stockte, als das schwache Licht auf sein Gesicht fiel. Unter den übergroßen Knopfaugen prangte das gemeine Grinsen – welches nun noch eine Spur fieser aussah. Etwas Helles klebte auf der Naht, die seine Lippen darstellten. Klein, hart und glänzend – das Vieh hatte sich Linas Milchzahn angeeignet. Mich schauderte bei dem Anblick, und ich strich vorsichtig über den einen Zahn. Ich fühlte Feuchte und schreckte unwillkürlich zurück. Doch ich hatte mich nicht verletzt – an meiner Fingerkuppe haftete eine kühle Substanz, die leicht fruchtig roch. Mr. Buttons grinste. Kurzerhand drehte ich ihn von mir weg und verfrachtete ihn in den Flur. Auf halben Wege zurück ins Schlafzimmer kehrte ich noch einmal um und legte einen Mantel über sein hässliches, einzähniges Antlitz. Auf dass ihm sein gehässiges Grinsen vergehe.

Ein leichtes, kurzes Brummen weckte mich am nächsten Morgen. Ich schlug die Augen auf und horchte in mich hinein. Mein Magen war es nicht, der knurrte. Ich rappelte mich auf und schaute zur anderen Seite des Bettes. Lina lag nicht mehr dort. An der Stelle, auf der letzte Nacht ihr Kopf gelegen hatte, saß Mr. Buttons aufrecht in einem Blutfleck. Mit einem zweiten Zahn im heimtückischen Grinsen. Vor Schreck schrie ich auf. Prompt hörte ich kleine Füße über den Boden tapsen, dann stand Lina in der Tür, schaute auf mein erschrockenes und Mr. Buttons fieses Gesicht und brach in schallendes Gelächter aus. Dabei sah ich, dass ihr der zweite Frontzahn fehlte.

Angelique war sieben, als sie Mr. Buttons ihren letzten Milchzahn vermachte. Sie war sehr konsequent in allem, was sie anfing, und pulte stets und ständig in ihrem Mund herum, bis achtundzwanzig gesunde Kinderzähnchen das Plüsch-Ungetüm noch unheimlicher machten. So machte Lina weit vor der angemessenen Zeit noch eine andere Erfahrung: Dass man den grässlichsten Typen unter Schmerzen alles gibt, ohne etwas dafür zurückzubekommen. Linas zweite Riege Zähne war nicht so schnell nachgewachsen, wie sie die Milchzähne aus ihrem Kiefer gewackelt hatte, sodass ihre Kauleiste ziemlich große Lücken aufwies. Lediglich drei Hasenzähnchen und die kleinen Gipfel der Eckzähne spitzten aus dem blutroten Zahnfleisch. Milchreis und Kakao waren in dieser Zeit sehr beliebt, und ich hütete mich davor, das Kind während des Essens zum Lachen zu bringen. Immer wieder sprang eine der Wunden auf und der Milchreis tropfte rosafarben aus Linas Mund.
Doch die gemeinsamen Essen wurden seltener, obgleich ich immer öfter meine Unterlagen mitbrachte, weil ich die Arbeit in meiner Lina-freien Zeit nicht mehr bewältigte. Mir wurde sogar eine kleine Schublade in Linas Kommode und dem Badezimmer freigeräumt. Doch immer öfter nutzte Lina meine gedankliche Abwesenheit beim Essen und verzog sich mit ihrer Portion ins Nebenzimmer. Erst nach einer Weile kam sie mit einem Rest auf dem Teller zurück. Ich beobachtete manchmal, wie sie Kekse stibitzte und Früchte nicht aß, obwohl sie zuvor noch darum gebeten hatte. Ich ahnte, dass sie das ganze Zeug in ihrem Zimmer hortete, um es in Beisein des angeranzten braunen Viehs zu essen. Auf die Monsterpicknicks wiesen auch die vielen Flecken auf Mr. Buttons hin. Doch an ein Waschen war nach wie vor nicht zu denken, und ich wagte nicht, es heimlich zu tun, da Lina mit der Einschulung launischer wurde, und ich ihre Gunst nicht verspielen wollte. Also ließ ich sie das Abendessen verschleppen und tat ihr gegenüber so, als bemerke ich nichts. Nachts hingegen starrte ich den grausigen Mr. Buttons an, wenn er mit glimmendem Gebiss in einer Ecke des Zimmers saß. Ins Bett durfte er seit jenem blutigen Morgen nicht mehr, wofür ich sehr dankbar war.

Da Stefanie und Sebastian mittlerweile so ziemlich jeden Wochentagnachmittag für sich entdeckt hatten, holte ich Lina immer öfter von der Schule ab. Sie tollte über die Bürgersteige und hatte einen Heidenspaß daran, die Stifte in ihrer Schulmappe herumfliegen zu lassen. Sie sang mit ihrem breiten, zahnspärlichen Lachen und sprang herum – und ich griff einmal zu fest nach ihrem Arm, als sie eine rote Ampel übertanzen wollte.
Sie schrie auf, und ich sah sofort, dass die Tränen in ihren Augen nicht allein vom Schreck stammten. Ich lockerte den Griff und schob ihren Jackenärmel gegen ihren Willen nach oben. Der Arm war eindeutig verletzt. Ich zählte ein Dutzend und mehr geschwollene Rötungen, unzählige Stiche übersäten ihre Haut. Ich fragte, was sie so zugerichtet habe, und nach einigem Zögern antwortete sie, dass sie an einer Mutprobe teilgenommen und deshalb den Arm in einen Ameisenhaufen gesteckt habe. Lina litt meines Wissens an keinen Allergien, und die Betrachtung der Haut verriet, dass die Verletzungen nur oberflächlich waren.
In der Wohnung schlug ich ihren Arm in kühlende Tücher, die ich regelmäßig nachnässte. Als ich nach einem dieser Handtuchbefeuchtungen aus dem Badezimmer zurückkam, sah ich, wie Lina am geöffneten Kühlschrank stand und hastig Dinge verstaute, indem sie den Rock ihres Kleides wie Sterntaler als Beutel benutzte. Sie bemerkte mich nicht und verschwand schnell im Nebenzimmer. Ich wunderte mich über die Fressattacke und betrachtete das Innere des Kühlschranks. Es fehlten Würstchen, Salami und einiges vom rohen Geschnetzelten. Das ging mir nun doch zu weit. Ich dachte an Salmonellenvergiftung und die Schweinerei an Mr. Buttons und ging ihr nach, um dem seltsamen Picknick ein Ende zu machen.

Ich war vierunddreißig, als ich Angelique zum letzten Mal sah. Ihre aufgerissenen Augen, ihren erschrockenen Mund, in dem so viele Zähne fehlten. Im Halblicht des Zimmers erkannte ich die Muster auf ihrem nackten Arm. Die vielen, kleinen Mulden bildeten Halbmonde auf ihrer Haut. Was ich für wilde Stiche gehalten hatte, waren unzählige, übereinandergesetzte Zahnabdrücke. Ihre Finger steckten im Geschnetzelten, das sie dem braunen Untier entgegenstreckte. Ich griff nach dem Kind, das erschrocken aufschrie, und zerrte sie zu mir herum. In ihren Augen glänzten alle Gefühle, zu denen ein Mädchen jemals fähig war, dann riss sie sich los und stürzte aus dem Zimmer. Das rohe Fleisch klatschte auf den Boden, als sie die Tür von außen zustieß. Ich war allein mit dem Untier. Langsam drehte ich mich zu Mr. Buttons um, betrachtete sein verfilztes Fell, die schimmernden Knopfaugen und die schmutzigen Zähne in seinem Narbenmund.
Breiter und noch breiter wurde sein Schlund.
Er grinste mich an.
Und dann – sprang er.

Portrait von Mr. Buttons

Mr. Buttons

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